1 Schottland unabhängig? Wie denkt Ihr?

Ich oute mich hier nach ein paar Mutigen auch mal als jemand, der froh ist über das Abstimmungsergebnis.

Abgesehen von aller Unabhängigkeits- und Braveheart-Romantik, der auch ich mich nicht ganz verschließen kann, habe ich die Yes-Kampagne eben auch immer mehr als einen Selbstprofilierungsakt der SNP und Mr. Salmond wahrgenommen als eine durchdachte Sache.

Sorry, wer keine wirklichen Antworten bzw. Konzepte hat für Grundlegendes wie (eine zu übernehmende und horrende) Staatsverschuldung, Währungs- und Verteidigungsfragen (Schottland wäre auch kein Mitglied der Nato mehr und könnte zusehen, wie es seine tausende km Küstenlinie selbst schützt), der hat erst recht keine für detaillierte Angelegenheiten. Klar konnte man vieles theoretisch gar nicht durchspielen, aber ich hatte auch nicht den Eindruck, dass man es überhaupt versucht bzw. die Kompetenz dafür hat - von Abenteurergeist und Stammtischparolen abgesehen.
Öl und Fische in der Nordsee werden nicht ewig reichen für die Ökonomie eines Landes, auch nicht aufgepeppt durch Whisky, Tourismus und ein bisschen Schiffsbau.
Man kann auch nur sehr bedingt Vergleiche ziehen mit den (geographisch und bevölkerungsmäßig ähnlichen) skandinavischen Ländern, denn die Voraussetzungen sind schon allein deshalb andere, weil es unwahrscheinlich gewesen wäre, dass Schottland das Pfund hätte behalten können (bzw. nur als Schottisches Pfund und abgekoppelt von der Wirtschafts- und Finanzkraft des restlichen GB), aber ebenso unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit (also mindestens ein paar Jahre) a) den Euro und b) die EU-Mitgliedschaft bekommen hätte.
Und wenn man nicht die Schweiz sondern Schottland ist, sollte man es sich genau überlegen, was es bedeuten würde, ein 'europäisches Drittland' zu sein.

Nicht dass ich ein sonderlich großer Freund von a) und b) wäre, und genau daraus erwächst ein weiterer Grund meiner Zufriedenheit über das Ergebnis: ohne Schottland wäre Rest-GB wohl beim Referendum 2017 ziemlich sicher aus der EU ausgetreten (was mit den pro-europäischen Schotten-Stimmen schwer werden dürfte), und während andere GB als unerwünschten Querschläger und Eigenbrötler in der EU ansehen, empfinde ich diese Eigenschaft überwiegend als positiv, weil sie eben zum Gegengewicht der 'Euro-Nord'-Staaten gegen die 'Euro-Süd'-Staaten beiträgt, ja in gewisser Weise ein Hemmschuh ist für Entwicklungen in der EU, die auch für Deutschland alles andere als zuträglich oder wünschenswert sind/wären.

Wenn London jetzt wirklich weitere Zugeständnisse macht, was Selbstverwaltung und Mitbestimmung angeht (nicht nur für Schottland, sondern auch andere Regionen (Nationen? ) wie Wales und NI), dann ist das jetzt für mich der (gegenwärtig!) bestmögliche Ausgang des Referendums.

Ok, just my 2 cents - ich hab ja auch nicht den ultimativen politischen Durchblick, und ganz heimlich hatte ich wahrscheinlich nur Angst vor drohenden Zöllen auf den Whisky-Export unseres 'gelobten Landes' :lol:

Darauf nehm ich jetzt einen Talisker :mrgreen:
Sláinte mhath

lieGrü
catrail

Beeindruckend finde ich jedenfalls die hohe Wahlbeteiligung von ca. 85% - die Schotten hatten wohl schon die Überzeugung, dass sie mit ihrer Stimme etwas bewegen können (unabhängig von ja oder nein) und den wenigsten war diese Sache egal.

gedudelsack schrieb: ... Die Zukunft kennt niemand, aber die Angst scheint erstaunlicherweise bei vielen immer mächtiger zu sein als die Hoffnung! Viele sprechen von den unwägbaren Risiken, aber Risiken gibt es immer ...

Richtig, aber es ist halt nicht jeder so risikofreudig wie du Wären die Dinge wie Währung und Bündniszugehörigkeit (EU, Nato) vorher geklärt gewesen, wer weiß, wie es ausgegangen wäre ... Aber dafür hätte man eben auch die Unterstützung der EU und der Nato gebraucht, aber ein unabhängiges Schottland, das mit seiner Abspaltung einen (mehr oder weniger) verlässlichen Bündnispartner wie Großbritannien (ganz zu schweigen von weiteren zwei, drei anderen EU-Ländern) enorm schwächen und destabilisieren würde, ist eben NICHT im Interesse dieser Bündnisse. Barroso hat ja nicht umsonst vorsichtshalber schon im Vorfeld klargestellt, dass Schottland nicht automatisch EU-Mitglied sein würde. Ansonsten hat Skyelark das sehr fundiert zusammengefasst, wie ich finde.

Der unbedingte Wille zu radikaler Veränderung ist ja nun auch nicht bei jedem gleichermaßen vorhanden. Man hat auf der einen Seite die Nationalisten (im positiven Sinn), die radikale Veränderungen wagen wollen und überzeugt sind, ihre Region wäre im Alleingang besser dran, aber das ist normalerweise doch eher eine Minderheit, auch wenn sie es im Laufe einer Kampagne schaffen, viele Menschen von ihren Zielen und der möglichen neuen Zukunft zu überzeugen. Aber in einem Land, in dem es der Mehrheit verhältnismäßig gut geht, entscheidet sich die Mehrheit dann doch für die Sicherheit, die sie kennt (auch wenn sie nicht immer ideal ist), anstatt für das Abenteuer, dessen Ausgang eher ungewiss ist.

@Gedudelsack: Ich gebe dir in allen Punkten recht und bedauere das Abstimmungsergebnis sehr!

In der Tat: Es kann keiner in die Zukunft sehen, aber Schottland hätte einige wichtige Trümpfe gehabt: sei es das Öl oder aber international noch wichtiger seine Stellung als strategischer Militärstützpunkt in der Nordsee. Soweit mir bekannt ist, war folgender Deal geplant: NATO gegen Pfund. Allein schon aus diesen Gründen wäre Schottland eine internationale Anerkennung nicht verwehrt geblieben.
Ich selber war bis Montag in Schottland und habe in vielen Gesprächen den Eindruck gehabt, dass viele Leute gerne mit Ja stimmen würden, aber sehr eingeschüchtert waren. Man sieht: Die "Propagandamaschine" mit dem Mittel Angst, u.a. der BBC, die nur über Nachteile der Abspaltung berichteten, hat bestens funktioniert.

Im übrigen sind auch wir von den Folgen des Abstimmungsergebnisses betroffen: Als wohlwollende Geste an Cameron hat EU-Kommissionschef Juncker den Engländern in der EU-Kommission das Ressort Finanzen zugeteilt und wird besetzt mit Jonathan Hill, ein ehemaliger Lobbyist der Banken in der Londoner City. Auf seine Entscheidungen dürfen wir wohl sehr gespannt sein. Ob dies für uns Normalbürger, die wir alles hinnehmen, so angenehm wird, mag dahingestellt sein.

Hannah schrieb:
... Juncker den Engländern in der EU-Kommission das Ressort Finanzen zugeteilt und wird besetzt mit Jonathan Hill, ein ehemaliger Lobbyist der Banken in der Londoner City. Auf seine Entscheidungen dürfen wir wohl sehr gespannt sein. Ob dies für uns Normalbürger, die wir alles hinnehmen, so angenehm wird, mag dahingestellt sein.

Nun ja. Herr Junker hat auch grad einen spanischen Öl-Lobbyisten zum Energiekommissar gemacht :roll: Zur Bestechung, um die Katalanen an der Kandare zu halten?
Wie gesagt - 'gegen Brüssel' hab ich lieber Groß-Großbrittanien mit im Boot als nur Schottland :-]

Gut ich hätte eine Unabhängigkeit gut gefunden, trotz des hohen wirtschaftlichen Preises. Aber richtig geglaubt daran habe ich nicht.

Im Endeffekt gibt es aber nur einen Sieger aus dem ganzen Prozedere: Schottland.

Alleine das Muffensausen und betteln in den letzten Wochen von Cameron und Co war schon amüsant. So haben die Schotten nun zwar nicht ihre formale Unabhängigkeit, dafür aber viele Zugeständnisse der Zentralregierung. Mal sehen was davon gehalten wird.

In Großbritannien scheinen nun auch mehr und mehr föderale Strukturen einzuziehen.

Für uns bleibt aber alles beim Alten: Die Musik dudelt weiter, die Shortbreads knuspern im Ofen und der Whisky schaukelt in den Gläsern ... :scotland

Noch ein kleiner Nachtrag zum Referendum.




Servus
Michel